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Shakespeares Werke: Betörend, verstörend

27.01.2025

Wie auf die heutige Zeit geschrieben: Der Theaterklassiker Shakespeare überschreitet die Grenzen des Möglichen und Vorstellbaren und ist damit aktueller denn je, erklärt die LMU-Anglistin Claudia Olk. Aus dem Magazin EINSICHTEN

Lars Eidinger als Erzschurke Richard III. in einer Inszenierung an der Schaubühne Berlin, Proben 2015.

Shakespeares Theater „lässt uns zweifeln an triumphaler Selbstglorifizierung und perfidem Pathos“, sagt Claudia Olk. Lars Eidinger als „Erzschurke“ Richard III. in einer Inszenierung an der Schaubühne Berlin, Proben 2015.

© © Hermann Bredehorst/Polaris/laif

Sein oder Nichtsein?

Mit theatraler Wucht bringt der ukrainische Präsident – und geübte Schauspieler – Wolodymyr Selenskyj im englischen Unterhaus am 8. März 2022 die wahrhaft existenzielle Krise seiner Heimat nach dem verbrecherischen Überfall Russlands vor Augen – in einer Metaphorik, die wirklich jeder versteht, weil das Zitat längst universelles Kulturgut ist: „Die Frage ist für uns nun: Sein oder Nichtsein? Oh nein, diese Shakespeare-Frage. Diese Frage konnte während der ersten dreizehn Tagen des Kriegs gestellt werden, aber nun kann ich Ihnen die Antwort geben. Es ist definitiv ja, Sein.“

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Im Zusammenhang mit Tod und Vernichtung am Rand Europas hat die berühmte und zugegebenermaßen oft bemühte Hamlet-Frage noch einmal eine ganz andere, dringlichere Dimension, sie hallt in einem weit größeren Resonanzraum nach. Die Episode zeigt gleichzeitig allerdings auch die überzeitliche Anschlussfähigkeit Shakespeare‘scher Dramatik. Geht es um die ganz großen Themen, um Krieg und Frieden, um Leben und Tod, um Liebe und Leidenschaft, Freundschaft und Verrat, dann gibt es eben den einen Gewährsmann: William Shakespeare. Die Faszination für seine Stücke ist ungebrochen.

Mehr noch, in Zeiten wie diesen, in „Zeiten verstörender Umbrüche, wie sie die gegenwärtige weltpolitische und gesellschaftliche Situation kennzeichnen“, erscheinen Shakespeares Werke „einmal mehr äußerst zeitgemäß“, sagt LMU-Professorin Claudia Olk. Der Grund dafür liegt, so die Lehrstuhlinhaberin für Anglistik, auch in der Komplexität der Stücke: „Shakespeares Œuvre ist herausfordernd und verstörend. Wer einfache Antworten sucht, wird sie bei Shakespeare nicht finden.“

An US-amerikanischen Universitäten führt dies dazu, dass „Triggerwarnungen“ wegen Gewaltdarstellungen, Rassismus, Klassismus oder Sexismus zu Shakespeares Werken ausgesprochen und sie teilweise nicht mehr behandelt werden, bedauert Claudia Olk. Die Direktorin der international renommierten Shakespeare- Forschungsbibliothek hat an ihrem Institut ganz andere Erfahrungen gemacht: „Die Studierenden wollen sich mit Shakespeare auseinandersetzen, weil nicht nur der historische Moment, in dem seine Werke entstanden sind, fasziniert, sondern gerade auch, weil sich seine Stücke ungebrochen lebendig zu einer jeweiligen Gegenwart in Beziehung setzen.“

Claudia Olk im Zuschauerraum des Münchner Residenztheaters
© Manu Theobald / LMU

Mit Shakespeare auf die Gegenwart blicken

Trotzdem – oder gerade deshalb – ist Shakespeare immer noch einer der meistgespielten Theaterautoren unserer Zeit, allein die großen Münchner Bühnen zum Beispiel spielen in der laufenden Saison ein halbes Dutzend seiner Stücke. Shakespeares Stoffe und Motive werden verfilmt und adaptiert für Kino, TV und Netz-Serien wie zum Beispiel House of Cards. Oder sie dienen als Vorlagen für Romane, etwa von Margaret Atwood oder Jeanette Winterson. Sie wurden, sagt Claudia Olk, „in viele Sprachen übersetzt und erweisen sich gleichfalls als übersetzbar in viele politische und kulturelle Kontexte – von Reykjavik bis Kapstadt, von Hollywood bis Bollywood“.

Shakespeares komplexe Helden und Schurken bieten Erklärungsmodelle auch für die Gegenwart, wie der US-amerikanische Kulturhistoriker Stephen Greenblatt in seinem furiosen Shakespeare-Essay The Tyrant (Der Tyrann) gezeigt hat, mit dem er die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten 2016 kommentiert. Natürlich sind „charmante Erzschurken wie Richard III. nicht trotz ihrer Bösartigkeit, sondern gerade wegen ihr so anziehend“, betont Claudia Olk. Shakespeares Theater „lässt uns zweifeln an triumphaler Selbstglorifizierung und perfidem Pathos“. Aber das allein kann die ungebrochene Faszination für Shakespeare nicht erklären.

Claudia Olk hinter der Bühne im Münchner Residenztheater

„Wer einfache Antworten sucht, wird sie bei Shakespeare nicht finden“, sagt die Anglistin Claudia Olk und wirbt dafür, sich mit der Komplexität der Stücke auseinanderzusetzen. | © Manu Theobald / LMU

Ein Schlüssel zum Verständnis liefert Shakespeares Spätwerk The Tempest (Der Sturm), in dem die Zuschauer unweigerlich, wie auch im Sommernachtstraum, ihre eigene Position hinterfragen müssen. Ständig schläft irgendwer irgendwo und schnell ist nicht mehr klar, was wahr ist und was geträumt, was Theater und was Wirklichkeit. In den permanenten Grenzüberschreitungen wird der Sinn selbst fluide wie das Wasser und der Wind, die in Shakespeares Dramen eine so zentrale Rolle spielen – so auch in Der Kaufmann von Venedig. Hier diffundieren, in Gestalt des Advokaten Balthasar – in dem in Wahrheit die verkleidete Portia steckt – nicht nur die Geschlechterrollen. In seiner/ihrer rabulistischen Rhetorik verflüssigen sich auch der Sinn des Vertrages zwischen dem Juden Shylock und seinem Schuldner Antonio und sogar die Gesetze von Venedig.

„We would not die in that man’s company / That fears his fellowship to die with us.” („Wir wollen nicht in des Gesellschaft sterben, / Der die Gemeinschaft scheut mit unserm Tod.“), ruft Henry V. in der voll nationalem Pathos triefenden sogenannten St.-Crispin-Rede seinem hoffnungslos unterlegenem Heer zu. Dann geschieht das für unmöglich Gehaltene. Er besiegt mit seinen Mannen die Franzosen und legitimiert mit dieser Heldentat inmitten des Hundertjährigen Krieges den Anspruch der Tudors auf den englischen Thron.

Antisemitismus? Rassismus? Nationalismus? Die Vorwürfe greifen zu kurz

Die sich an Henry V. entzündende Debatte, ob Shakespeare ein Nationalist gewesen sei, greift ebenso zu kurz wie die am Kaufmann von Venedig, am Othello und an Der Sturm festgemachten Vorwürfe des Antisemitismus und Rassismus. Die Darstellung von Antisemitismus (Der Kaufmann von Venedig), Rassismus (Othello, die Figur des Caliban aus Der Sturm) oder Nationalismus (die St.-Crispin-Rede aus Henry V.) darf nicht, so Claudia Olk, mit Zustimmung verwechselt werden. Shakespeare zeigt vielmehr, wie es zum Beispiel dazu kommen kann, dass Rassismus entsteht, wie Ausgrenzung und Feindseligkeit funktionieren, indem er sie von allen Seiten beleuchtet und einen Reigen an Deutungsmöglichkeiten eröffnet.

Darin liegt der wahre Grund für Shakespeares Aktualität, sagt Claudia Olk: „Die weltweite Shakespeare-Rezeption, man könnte fast sagen, die Shakespeare-Industrie verdankt sich bis heute diesem Überschuss, einer schier unerschöpflichen Unendlichkeit an Möglichkeiten der Interpretation und Darstellung.“

Das Überbordende in Shakespeares Werk, ob sie sich nun in einem „Übermaß an exotischem Luxus in Antony and Cleopatra“ manifestieren, oder in dem „beunruhigend ausagierten Verständnis der Geschlechterrollen in The Taming of the Shrew (Der Widerspenstigen Zähmung), oder auch in den Gewaltexzessen im Titus Andronicus“, sind Beispiele dafür, so die Shakespeare-Expertin, „wie Shakespeare in der Wahl seiner Quellen eine besondere Vorliebe für Stoffe gehegt hat, die sich an der Grenze des Vorstellbaren bewegen“.

Selbst Romeo und Julia, dieser Inbegriff einer modernen Tragödie, lebt das Exzessive, wie Julia selbst zugibt: „My true love is grown to such excess / I cannot sum up sum of half my wealth“ („Meine Zärtlichkeit ist zu einem solchen Uebermaaß gestiegen, daß ich nicht die Hälfte meines Reichthums anzugeben vermag.“) Die poetische Kraft und ihr aufklärerisches Potenzial liegen auch in eben diesem Exzesshaften, sagt Claudia Olk: „Exzesse sind dem Theater immanent. Sie bedingen die Reflexion eigener Möglichkeiten und initiieren eine Logik der Selbstüberschreitung.“ Sie verweisen auf „ihre Möglichkeitsbedingungen“ und stellten gerade „die in der Begrenztheit der Mittel wie der Worte liegende poetische Kraft der Kreation und imaginativen Transgression“ aus. „Shakespeares Figuren konfigurieren in ihrem Ausgreifen in den Exzess kontinuierlich performative Grenzüberschreitungen.“

Doch eben dieses Exzesshafte machte Shakespeares Werke für ein breites Publikum manchmal schwer verdaulich; gerade in Deutschland, wo Shakespeare ironischerweise schon im 18./19. Jahrhundert zum „dritten deutschen Klassiker, neben Goethe und Schiller“ avancierte. Schon während der Hamburger Premiere des Othello seien die Zuschauer bei den „Grausszenen“ reihenweise in Ohnmacht gefallen, resümiert der zeitgenössische Beobachter J.F. Schütze in seiner Hamburgische Theater-Geschichte von 1794, und manch „frühzeitige missglückte Niederkunft dieser und jener namhaften Hamburgerin“ sei die Folge gewesen. „Gleichwohl“, sagt LMU-Anglistin Olk, „schien es auch, dass Shakespeares Stücke ihre Regisseure, Schauspieler, Kritiker und Zuschauer nicht trotz ihrer exzessiven Qualitäten begeisterten, sondern gerade wegen dieser. Sie verbreiteten Schrecken und Faszination zugleich.“

Entkerntes Drama: Ein Hamlet ohne Hamlet

Prof. Claudia Olk und Studierende

Claudia Olk mit Studierenden in der Shakespeare-Forschungsbibliothek | © Stephan Höck / LMU

In der Originalversion galten trotzdem viele Shakespeare-Dramen als dem Bürgertum unzumutbar oder gleich unspielbar. Die Folge ist eine intensive Nach- und Um-Dichtung, wie das Claudia Olk an vielen Bühnen-Bearbeitungen zeigen kann, die in der Shakespeare-Forschungsbibliothek lagern, im Übrigen „der einzigen auf dem europäischen Kontinent, einem Labor der Geisteswissenschaften“, wie die Anglistin anmerkt. „Paradox“ sei, dass der in Deutschland wie England so geliebte Shakespeare so wenig in der originalen Form toleriert wurde: „Bei aller hymnischen Bewunderung für Shakespeare konnte man seine Stücke im Theater des 18. und 19. Jahrhunderts oft nicht ohne extensive Änderungen ertragen“, sagt Claudia Olk.

Ein prägnantes Beispiel bietet die Hamlet-Inszenierung am Wiener Hoftheater im Jahr 1773. Sie ist ein voller Erfolg, trotz, oder wegen, der Eingriffe des Regisseurs Franz Heufeld. Er verpasst den Protagonisten dänisch anmutende Namen, Polonius heißt jetzt Oldenholm und aus Horatio wird Gustav. Wichtige Nebenfiguren wie Fortinbras, Laertes, Rosencrantz, Osric und der Totengräber werden von ihm ebenso gestrichen wie der norwegische Handlungsstrang.

Das Stück endet schließlich nicht mehr in einem Blutbad, denn Hamlet darf in seiner Fassung, anders als seine Gegner, überleben. Heufeld nimmt damit dem Stück die politische, die komisch-selbstreflexive und die tragische Dimension – ein Hamlet ohne Hamlet quasi. Shakespeares Werke waren, sagt Claudia Olk, „für die deutsche Kritik und das deutsche Theater des 18. Jahrhunderts zu viel, zu beunruhigend, zu kompliziert, zu verwirrend und bedrohlich, wenn nicht gar zu schockierend, blutrünstig und grausam: Kurzum: unbrauchbar“.

Gleichsam entkernt – das galt auch für Shakespeares King Lear (König Lear): In der deutschsprachigen Premiere wurde das „Irrationale, Ambivalente und Absurde der Szene zugunsten einer auf ihre affektive Wirkung bedachten Inszenierung getilgt.“ Übrig blieb, so Olk, eine „Handlung ohne moralisch möglicherweise anstößige Elemente und eine Vereinfachung des Stils, der zum Beispiel in den Narrenreden seiner erotischen Anspielungen entledigt wurde.“ Ein Hamlet ohne Hamlet also und ein Lear ohne Lear für das deutsche Bürgertum?

In Ohnmacht immerhin fallen Theaterbesucher bei Shakespeare heute nicht mehr. Dafür braucht es schon schockierendere Stoffe wie etwa Florentina Holzingers Bearbeitung der Hindemith-Oper Sancta, bei deren Premiere in Stuttgart zu Beginn dieser Theatersaison laut Medienberichten „trotz einer Altersfreigabe ab 18 Jahren und fett gedruckten Warnhinweisen“ 18 Zuschauerinnen und Zuschauer kollabierten.

Trotzdem: Verstören kann Shakespeare auch heute, wofür König Lear, der gleichwohl stets für volle Häuser sorgt, ein gutes Beispiel ist. Gerade im Irrationalen, Ambivalenten und Absurden liegt der eigentliche Kern des Stücks – und genau das macht es auch so schwer erträglich. Der Lear, so Olk, „verweigert sich einer aufklärerischen Lösung. Am Ende sieht sich das Publikum in vollendeter Sinnlosigkeit gleichsam dem Nichts ausgeliefert.“ Wer einfache Antworten sucht, wird sie bei Shakespeare nicht finden. „Das Stück ist zu Ende, aber nichts ist gut“, heißt es am Schluss von King Lear.

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3:09 | 16.02.2023

Schwer verdaulich mag Shakespeare zuweilen sein, doch gar so unversöhnlich und düster ist er nun auch nicht. Darauf legt Claudia Olk großen Wert. Denn neben seinen Tragödien beherrschen zum Glück auch seine Komödien wie A Midsummer Night’s Dream (Ein Sommernachtstraum), in denen die Grenzüberschreitungen positiv gewendet erscheinen, bis heute die Theaterwelt.

Und so gebührt am Ende dem Narren Puck der Vorhang: „Now to 'scape the serpent's tongue, / We will make amends ere long; / Else the Puck a liar call; / So, good night unto you all. / Give me your hands, if we be friends, / And Robin shall restore amends.“ („Wenn wir bösem Schlangenzischen / Unverdienterweis entwischen, / So verheißt auf Ehre Droll / Bald euch unsres Dankes Zoll; / Ist ein Schelm zu heißen willig, / Wenn dies nicht geschieht, wie billig. / Nun gute Nacht! Das Spiel zu enden, / Begrüßt uns mit gewognen Händen!)

Claudia Olk im Münchner Residenztheater

„Zur Schönen Aussicht“ heißt dieser Ort im Residenztheater. Ganz so unversöhnlich und düster sei Shakespeare nun auch wieder nicht, vor allem nicht in seinen Komödien, darauf legt Claudia Olk großen Wert. | © Manu Theobald / LMU

Prof. Dr. Claudia Olk ist Inhaberin des Lehrstuhls für Englische Literaturwissenschaft an der LMU und Direktorin der Shakespeare-Bibliothek der LMU. Claudia Olk wurde an der Universität Münster in Englischer Philologie promoviert und habilitierte sich an der Humboldt-Universität zu Berlin. Danach war sie Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft mit Schwerpunkt Anglistik am Peter Szondi-Institut der Freien Universität Berlin, bevor sie 2019 an die LMU kam. Claudia Olk war zudem neun Jahre Präsidentin der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft.

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